Das Ding auf dem Balkon

Spätnachmittag war es, als Marinus endlich seine letzten Zeilen in sein Computer eintippte und den Feierabend begrüßen konnte. Seit heute Morgen um 8 Uhr hatte er vor der Kiste gesessen und schätzungsweise zehn DIN A4-Seiten an Texten für seine Kunden geschrieben. Ein normales Tagespensum, was für den erfahrenen und promovierten Redakteur, der ein Contentoffice seit über ein Jahrzehnt betrieb, keine Herausforderung darstellte und für sein Einkommen sorgte.

Gut leben sah anders aus, denn nur alle zwei Jahre konnte er sich einen Urlaub leisten. Er verzichtete bewusst auf ein Auto. Stattdessen düste er mit seinem Elektro-Roller von A nach B und nutzte ihn vor allem für Kurzstrecken. Marinus lebte im zweiten Stock eines modernen Mietshauses in einer unscheinbaren Stadt. Der Umzug vor wenigen Wochen hatte seine Spuren hinterlassen. Noch immer standen Kartons voller Klamotten und anderen Krimskrams herum. Ja, die Trennung von seiner unehrlichen Ex Kathinka wirkte nach.

“Tolles neues Leben”, dachte der Mittdreißiger laut, als er seinen Rechner herunterfuhr und einmal laut gähnte. Draußen wehte ein starker Wind, der die Bäume leicht knarzen und den Jalousiekasten knacken ließ. Müde schlurfte er in seinen Sneakern von seinem minimalistischen Büro in sein Wohnzimmer und schaute vom Fenster aus auf den Balkon.

Er sah karg und dennoch gemütlich aus, vor allem wenn Marinus es sich im Sommer auf ihn gemütlich machte und auf dem Balkon tanzte. Heute wirkte er ein wenig unheimlich, da er wegen des trüben nassen April weder den gebrauchten runden Glastisch noch die schlichten grünen Plastikstühle aufgestellt hatte. Auf dem Balkon des noblen Nachbarhauses gegenüber stand noch der BBQ-Grill.

Gestern Abend hatte es Tiziana, die Tochter der Familie ordentlich zu ihrem 18. Geburtstag bis spät in die Nacht mit ihren Freunden krachen lassen. Marinus öffnete die Balkontür und ließ den Wind seine Wohnung durchpusten. Endlich verschwand der Mief der letzten zwei Tage aus seinen vier Wänden und nahm einen tiefen Zug der frischen kalten Luft in seine Lungen auf. Er streckte und reckte sich.

Außer ihm stand niemand sonst rundherum draußen auf den Balkonen. Klar, die Uhr hatte erst kurz nach 17 Uhr geschlagen und die meisten seiner Nachbarn noch auf ihrer Arbeitsstelle, während der sportliche junge Mann schon den Feierabend genoss. Er kannte kaum niemanden, außer “Hallo”, “Guten Tag” oder ein profanes “Wie geht´s?”, kam es bislang zu keiner längeren Konversation.
“Merkwürdige Leute sind das, alle so eigen und immer auf sich selbst schauend ”, flatterten Marinus die Worte aus seinen Lippen und schloss die Tür, als er zu sehr bibberte, sich kurzentschlossen seinen Rucksack aus dem Schlafzimmer packte und zum Fitnesscenter stapfte.

Keine zehn Minuten später stand er im Studio, zog sich um und besuchte seine geliebte Tanzfitness-Stunde. Trainerin Nadine war einfach der Hammer mit ihren Moves zu lateinamerikanischer Musik. Eine Stunde zu heißen Rhythmen getanzt ließen Marinus all seine Sorgen vergessen und vom Alltag abschalten. Ja, er liebte Zumba und hatte vor wenigen Wochen sogar den Trainerschein geschafft. Jetzt durfte er selbst das weltweit erfolgreichste Tanzfitness-Programm unterrichten, doch bis dahin stand Üben auf dem Plan.

In der Zwischenzeit war es dunkel geworden, die düstere Finsternis schien undurchdringlich. Heftiger Wind peitschte ihm auf dem schlecht beleuchteten Heimweg ins Gesicht, der ihn entlang eines Supermarktes führte. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer, je schneidiger der Wind wurde und machte einen kleinen Luftsprung, als er endlich vor der Haustür stand. Er hätte doch lieber seine dicke Winterjacke anziehen sollen, doch er hasste fette Jacken und bevorzugte T-Shirts, Pullover oder leichte dünne Sportjacken. Mit zitternden Händen holte er den Haustürschlüssel hervor, als er ein Rascheln neben sich vernahm.

Der frierende Mann schaute in die Richtung, woher das Geräusch kam, doch zuckte mit den Schultern und rannte in das zweite Stockwerk. Flink den Wohnungsschlüssel rausgeholt, die Tür geöffnet und schon spürte er die wohlige Wärme, als er seine Wohnung betrat. Seinen Rucksack in die Ecke knallend zog es ihn sogleich in seine beengte Küche.

Marinus nahm drei Bananen, zwei Kiwis, einen Apfel und Heidelbeeren für seinen abendlichen Smoothie aus der Obstschale. Zum Kochen verspürte er keinerlei Motivation. Er warf das Obst zusammen mit einer dicken Scheibe scharfen Ingwers, drei Teelöffel Kokosflocken und einem ordentlichen Schuss Zimt in seinen geliebten Hochleistungsmixer. Mit satten Getöse wie ein Düsenflieger ratterte der Mixer los, zerkleinerte die Zutaten mit einem Glas fettarmer Milch zu einem samtigen feinen Powersmoothie.

Als aktiver Youtuber griff er zu einer Trinktasse mit dem flotten Schriftzug “Born to Dance”, die zu seinem Merch gehörte und füllte sie mit seinem geschmeidigen flüssigen Abendmahl. Gemütlich schlenderte er mit der Tasse in der Hand zum hölzernen Wohnzimmertisch. Sein Blick schweifte nach draußen, wo absolute Düsternis herrschte.

Plötzlich vernahm er ein heftiges metallisches Knacken. Geistesgegenwärtig drehte er die Jalousien der Balkontür und die des Fensters herunter. Ein Beben ließ die Tasse auf dem Tisch um einige Zentimeter abheben. Plitsch-Platsch schwappte die Hälfte des Inhalts heraus und verteilte sich auf der glatten Oberfläche des Holztisches

“Mist verdammt nochmal!”, schimpfte Marinus, rannte zur Küche und packte sich ein feuchtes Küchenpapier, mit dem er das Desaster aufwischte. Er schaute vom Tisch auf, schreckte zusammen, als ein greller roter Strahl durch die Schlitze der Jalousie trat und die Wand hinter ihm in allen vier Himmelsrichtungen abtastete.

Ein tiefes Fauchen ließ ihn erschaudern und das mysteriöse Licht verschwand für einen Moment.

“Erlaubt sich da jemand einen üblen Scherz mit einem Laserpointer?”, fragte er sich leise und schlürfte bedächtig an der Tasse, da sein Magen knurrte.

Erneut wagte er einen Blick auf das Fenster und sackte voller Ehrfurcht zusammen. Jemand oder etwas Gigantisches hatte sich auf dem Balkon aufgebaut. Breitschultrig mit kräftigen Armen und einer stabilen muskulösen Statur, vermutete er, als er die Silhouette des Dings erblickte.

Mit einem Mal hämmerte das Etwas auf die Jalousie ein, was Marinus ein Stück weit vom Tisch die Tasse haltend zurückweichen ließ. Voller Nervosität trank er die Tasse leer und stellte sie zackig auf den Boden ab. Zu hastig getrunken, hustete er, rang nach Luft und gewann nach einer gefühlten Ewigkeit wieder die Oberhand.

“Trink langsamer….”, sagte er zu sich selbst, seine Augen starr auf das Fenster und Balkontür verweilend.

Das Hämmern ging unbeeindruckt weiter, mit jedem Schlag gab die Jalousie, die aus soliden grauen Kunststoff bestand, mehr nach. Wieso reagierte keiner der Nachbarn? Das Ding fauchte mit jedem Faustschlag und ließ eine große Beule in der Jalousie des Balkonfensters entstehen.

Auf einmal erzitterte die Jalousie und zerriss entzwei. Marinus wich zurück, drehte sich in Zeitlupe um und rannte schnell in den Flur, als auf einmal das Licht zu flackern begann und schließlich völlig erlosch. Dunkelheit.

Er stieß die Tür hinter sich zu, die sogleich aus den Angeln gerissen wurde, kaum dass sie geschlossen war. Ein fauliger ekelhafter Gestank kroch in seine Nase, als er etwas Glitschiges auf seinem Nacken spürte und nach Luft rang. Im Augenwinkel vernahm er eine ekelhafte gespaltene Zunge wie die einer Schlange, die aus gefletschten spitzen Zähnen herausgeschnellt war.

Der Geruch raubte ihm fast den Atem, riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter, als die Hölle um ihn herum losbrach. Im Treppenhaus empfing ihn das finstere Nichts, das sofort durch grünes Laserlicht und vorbeizischende Kugeln unterbrochen wurde.

“Rennen Sie weiter zur Haustür, wir retten Sie! Sie sind der Letzte! Laufen Sie, zügig!!”, schrie eine kräftige Männerstimme in seine Richtung.

So schnell Marinus eben konnte, düste er zur Haustür hinunter, öffnete sie und rannte in die Arme eines vermummten schwer bewaffneten maskierten Soldaten, der eine Atemmaske trug. Marinus wich zurück, rang nach Luft, als er einen Atemzug machte und orange Nebelschwaden umherwabern erblickte.

Er sah nichts außer Nebel, als ihm der Mann eine Atemmaske überzog und hart am Arm packte. Hinter sich vernahm er ein markerschütterndes Kreischen, als die Kugeln das Ding, welches ihn verfolgt hatte, traf und sein Leben aushauchten. In einem schwarzen Leichensack trugen Soldaten das Wesen davon. Marinus erschrak, als er in ein furchtbar entstelltes Gesicht schaute. Sein Körper wirkte echsenartig schleimig übelriechend und seine mit langen spitzen Krallen bewehrte Hände bedrohlich. Die Schlangenzunge hatte sich widerlich gekräuselt.

“Sie sind in Sicherheit. Tut uns leid, dass wir nicht eher kommen konnten. Wir sind unterwegs aufgehalten worden. Ein außerirdisches Bakterium hat jeden zweiten Menschen in dieser Stadt in ein fleischfressendes Riesenmonster verwandelt. Wir bringen Sie in die Evakuierungszone weit außerhalb von Eisstadt”, erklärte der Soldat ihm knapp.

“Sergeant Glaser, begleiten Sie Marinus Copper zum Helikopter. Wir jagen die verdammte Stadt in die Luft. Sie haben ihre Befehle!!”, befahl der Soldat, der sich nun als Befehlshabender herausstellte einem seiner Untergebenen. Irritiert kletterte Marinus mit beiden in den Helikopter. Der Transporthubschrauber vom Typ Chinook hob ab.

“Sie wollen meine Heimatstadt zerstören, warum?”, fragte Marinus völlig außer sich.

“Ja, wir haben Glacierville hermetisch abgeriegelt, alle Zugänge bereits gesprengt oder gesperrt. In zwei Minuten wird ein TR3B Tarnkappenjäger die Stadt mit einer Cobaltbombe Glacierville von der Landkarte tilgen. Tut mir leid, doch wir müssen die Invasion aufhalten, die hier ihren Anfang nahm. Wir konnten ein Viertel aller Einwohner retten”, versuchte Glaser ihm die Lage in ruhiger Tonlage deutlich zu machen. Plötzlich vernahm Marinus ein pulsierendes Geräusch.

“Hey Kleiner, keine Sorge. Die TR3B ist gerade mit ihrem Impulstriebwerk über uns hinweggedonnert. Gleich macht es Booom!”, sprach ein dürrer Soldat schmalzend grinsend, der dabei einen Atompilz mit seinen Händen imitierte.
“Officer McBeer, Pete, bitte bewahren Sie Contenance gegenüber Zivilisten!”, rief Glaser seinen Kollegen zur Ordnung. In diesem Moment schüttelte die Schockwelle den Hubschrauber leicht durch.

Marinus drehte sich zur Seite und sah durch eines der Bullaugen des Chinook wie seine Stadt in einen grellen Lichtblitz vom Antlitz der Erde verschwand…

ENDE
(c) 2019 by Andreas Krämer

Creepypasta „Das Ding auf dem Balkon“ von mir vertont:

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