Isar, die weiße Eule lebte schon Jahrzehnte in den Baumwipfeln ihres geliebten Eichenwaldes im tiefen südwestlichen Sauerland oberhalb eines kleinen Dorfes.
Das Wetter heute Morgen war sonnig aber in der Ferne bahnten sich dunkle finstere Wolken den Weg, um ihr kaltes Nass irgendwo fallen zu lassen.
Seit ein paar Wochen jedoch rückten die Menschen mit Maschinen Isar´s Wald näher, um die Bäume zu allerlei Holzprodukten zu verarbeiten.
Ihr weiches weißes Gefieder schützte Isar nicht vor dem Lärm, der ihren Bäumen immer näher kam und besonders schlimm schien es heute zu sein, denn das Geräusch einer Motorsäge schien gefährlich nahe zu sein.
Dadurch aufgeschreckt wachte Isar auf und flatterte mit ihren großen Schwingen davon um sich ein Bild von der Lage zu machen. Von hier oben konnte Isar das Zerstörungswerk der Menschen sehen, im einst dichten Wald war eine große Schneise geschlagen worden. In ihrer Kluft schritten die Waldarbeiter immer weiter voran. Als Isar die Arbeiter überflog, setzten sie mit ihre Motorsäge an und begannen ihr zerstörerisches Werk. Der Jahrhunderte alte knorrige Baum fiel knarrend splitternd um.
„Diese Menschen, vernichten alles ohne Rücksicht auf die Natur.“, schimpfte Isar und wollte zum Angriff auf die Waldarbeiter ansetzen aber ließ es schlussendlich sein, weil sie keine Chance hatte.
Stattdessen glitt Sie hoch über das Waldgebiet und flog in Richtung des kleinen Dorfes, welches direkt unter einem Hang in der Nähe ihres Waldes lag.
Als Isar das Dorf überflog erinnerte sie sich wie vor 80 Jahren statt vieler Häuser hier nur Wald und Felder waren. Keine Umweltverschmutzung, Lärm und Menschen welche die Natur mit ihren Maschinen einebneten.
Je weiter die weiße Eule flog, desto näher kam sie den größeren Wohngebieten wo nur noch wenig Grün aber dafür viel Beton, Stahl und Schmutz zu sehen war.
Die weiße Eule geriet mitten in eine heftige Regenschauer hinein und konnte kaum feststellen wo sie sich befand. Schließlich verlor Isar ihre Kraft um gegen die schweren Regentropfen und Wind anzukämpfen. Sie trudelte und landete sehr ungeschickt auf den Kiesstrand einer kleinen Insel inmitten eines großen Sees, der von Gehwegen aus Asphalt umgeben war. Isar schleppte sich mit letzter Kraft unter einen schützenden Ahornbaum.
Am frühen Morgen des nächsten Tages wachte Isar mit einem ungeheuren Knurren in der Magengegend auf und machte sich auf der Suche nach Futter.
Sie durchflog wie ein Kunstflieger die Bäume und fand schließlich Haselnüsse unter einem Baum. Kaum war Isar gelandet und pickte ein paar Haselnüsse auf, krabbelte ein Eichhörnchen den Baumstamm herunter und begann kräftig an zu meckern.
„Was erlaubst du dir eigentlich? Ich mühe mich hier ab, sammele den ganzen Tag die Haselnüsse ein und dann kommst du daher und frisst mir alles weg…“, meckerte das feuerrote Eichhörnchen und sprang dabei wild umher.
„Hör zu, mein Heimatwald ist von den Menschen zerstört worden und will mir hier auf der kleinen Insel eine neue Existenz aufbauen. Außerdem habe ich jede Menge Hunger.“, erzählte die weiße Eule hungrig wirkend. Das Eichhörnchen nickte mehr oder weniger verständnisvoll.
„Okay, friss dich satt während ich nach neuen Nüssen suche. Ich heiße übrigens Rabea.“, sagte Rabea pfiffig und verschwand mit einem Affentempo im tiefen Wald. Isar schlang die Haselnüsse mehr oder weniger herunter, denn ihre Lieblingsspeise waren Mäuse, Ratten, Insekten und im Ausnahmefall auch widerliche Spinnen.
Der Vogel flog zu seinem Baum am Kiesstrand und setzte sich auf dem Wipfel. Ein herrlicher Blick auf den See bot sich ihr.
Isar beobachtete das weitläufige Gewässer, dort wo gestern Dunkelheit und Regenschauer herrschten, schienen heute die Sonnenstrahlen und machten das Wasser zu einer glitzernden spiegelnden Oberfläche.
„Ja, hier möchte ich leben.“, sagte Isar zu sich selbst und startete zu einem Erkundungsflug. Sie spreizte ihre Schwingen aus und schwang sich in den Himmel auf, wo sie sich durch thermische Winde hoch über den See trieben ließ. Von hier oben beobachtete Isar den See und konnte sehen wie sich ein Passagierdampfer mit gemächlicher Geschwindigkeit den Weg durchs Wasser bahnte. Ein solches Ding hatte Isar noch nie gesehen und so setzte Sie zur Landung auf das offene grüne Passagierdeck an. Die Holzbänke luden zu einer Landung ein, wo die Menschen Platz nahmen um die Landschaft zu bewundern.
„Keine Menschen zu sehen, ein Glück“, dachte sich Isar und schaute sich um und entdeckten einen halbrunden Behälter, der lieblos in einer Ecke unter der Bank gepfeffert worden war.
„Was ist dass?“, fragte sich Isar und flatterte zu dem Gebilde. Sie entdeckte in diesem komischen Behälter neben bunten zerknüllten Papier, ein Stück Fleisch welches zwischen zwei halbrunden mehligen Dingern pappte. Isar schnappte sich dieses Ding und flog zurück zu ihrer Holzbank.
Die Eule probierte das Stück Fleisch mit den zwei Pappdingern aber diese Nahrung schmeckte irgendwie nach gar nichts. Weil Isar aber so einen Hunger verspürte, schlang sie dieses merkwürdige Etwas mehr schlecht als recht herunter.
In diesem Moment kamen erste Passagiere auf das Deck, sofort ließ Isar alles stehen und liegen und flog Richtung Heimat. Nach einer relativ kurzen Flugzeit landete Isar auf ihren Ahornbaum direkt am Kiesstrand und ließ sich die Sonne auf ihr Gefieder scheinen, denn allzu warm war es heute Morgen noch nicht.
Isar hatte sich damit abgefunden dass ihre alte Heimat verloren war aber hier am See fühlte sie sich wohl und in dem feuerroten Eichhörnchen Rabea eine gute Freundin.
© 2005/2008 by Andreas Krämer